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Stephan Hähnel
Gießt du meine
Pflanzen, entsorge ich
deine Frau
Einband: Paperback
Erscheinungsdatum: 7. November 2012
Preis: 11,90 EURO
ISBN: 978-3-9815604-0-4



Gießt du meine Pflanzen, entsorge ich deine Frau

Früher gab es eine klare Arbeitsteilung zwischen meiner Frau und mir. Sie gestaltete den Balkon mit weihnachtlichem Schnickschnack, ließ grelle bunte Lichterketten leuchten und verzierte die Fenster mit selbst gebastelten Weihnachtssternen.
Ich dagegen interessiere mich neben meiner aufreibenden Tätigkeit als Kriminalschriftsteller für Balkonblumen und erfreue mich jedes Jahr an ihrer Pracht. Mein Wissen habe ich einer umfassenden Bibliothek über die Gestaltung von Kübelpflanzen sowie Blumenkästen zu verdanken. Außerdem lese ich regelmäßig Gartenzeitschriften. Für mich ist die Gestaltung und Pflege meiner Balkonpflanzen ein beglückender Ausgleich nach Stunden der Beschäftigung mit menschlichem Versagen.
Meine Frau nutzte unsere kleine grüne Oase, auch wenn sie ständig über ein Zuviel an Schatten protestierte. Zuweilen nannte sie mich abfällig einen Kleinstgärtner, der mit seinem Grünzeug verheiratet sei. Dennoch, sie ließ mich gewähren. Im Gegenzug duldete ich ihre weihnachtliche Geschmacklosigkeit, zumal die Wochen der Besinnung außerhalb der Pflanzzeit lagen. Zu den Bewohnern des Hauses halte ich freundlich aber gebührend Abstand. Ich vermeide alles, um nicht vom kollegialen Nachbarschaftsbewusstsein assimiliert zu werden. Meine Frau ist jetzt ein halbes Jahr tot und nicht ganz schuldlos an ihrem plötzlichen Ableben. Den finalen Unfall hatte sie leichtfertig provoziert. Genau betrachtet, kam der Absturz aus dem vierten Stock für sie völlig unerwartet. Unser, oder besser gesagt, mein Balkon gehört bei aller Bescheidenheit zu den schönsten des Wohnblocks und findet bei den Nachbarn Lob und Anerkennung. Die Seitenfronten sind mit Scherengittern versehen und blickdicht mit einer Vielzahl blühender Rankenpflanzen zugewachsen. Die Vorderfront, die nach Süden zeigt, wird von einer Reihe spanischer Terrakotta-Blumenkästen geschmückt. Abgerundet wird das Ganze durch hängende Pflanzschalen, deren üppige Blütenpracht das Herz jedes Betrachters erfreut. Dass meine Frau nicht schuldlos an dem Drama war, erklärt sich mit der Leichtfertigkeit, die sie nach sieben Jahren Ehe unachtsam werden ließ. Einer meiner Nachbarn, der regelmäßig an Fotowettbewerben teilnimmt, hatte für seine Einsendung einen Ehrenpreis erhalten. Ich entdeckte das Bild zufällig beim Durchblättern einer renommierten Gartenzeitung. Es zeigte meinen Balkon und ein sich innig umarmendes Liebespaar im goldenen Licht der Abendsonne.
Romantic Moments hatte er sein Werk betitelt. Dass es sich bei den Liebenden um meine Frau und einen Fremden handelte, konnte der Fotograf natürlich nicht wissen. In unserem Ehevertrag stand sinngemäß, dass sie bei einer Trennung die Wohnung erhalte und ich alle Spareinlagen. Aus heutiger Sicht war das mehr als naiv, denn die vorhandenen Geldmittel deckten nicht ansatzweise die noch zu zahlende Restsumme für den Kauf unserer Wohnung. Eine Scheidung kam logischerweise nicht infrage. Ich musste eine andere Lösung finden.